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Vortragsreihe
Wissenschaft am Abend, Nr. 2
Wie ist Musikgeschichte heute zu erzählen?
Nicht selten sind es die einfachen Fragen, die schwer zu beantworten sind. Denn einerseits sieht sich die Musikhistoriographin natürlich den üblichen Problemen jeder Geschichtenerzählerin ausgesetzt: Sie muss auswählen, was sie in ihre Erzählung aufnimmt, und sie muss entscheiden, wie die ausgewählten Informationen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Darüber hinaus aber hat sie es als Musikhistoriographin mit einem ganz seltsamen Phänomen zu tun: In der Musikgeschichte geht es um Phänomene der Vergangenheit, die aber mitnichten vergangen sind, sondern mitunter eine ganz eigentümliche Präsenz in unserer Gegenwart besitzen.
Ausgehend von der meines Erachtens immer noch virulenten Frage, wie – pointiert mit Carl Dahlhaus gesprochen – Ästhetik und Historie im Rahmen der Musikgeschichtsschreibung sich miteinander verbinden lassen, interessiert mich die Erprobung neuerer kultur–wissenschaftlicher, erinnerungsgeschichtlicher und narratologischer Forschungsergebnisse. Eine ganz besondere Herausforderung stellt hierbei natürlich die adäquate Annäherung an das Zwanzigste Jahrhundert dar, das in seiner heterogenem Vielfalt von mannigfaltigen ‚Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen‘ geprägt ist. Im Gegensatz zu Dahlhaus möchte ich aber vorschlagen, ebendiesen ‚Druck von Ethnologie, Neuer Musik und Popularmusik‘ weniger als Problem, denn vielmehr als Chance zu verstehen: Dass sich die Musikgeschichtsschreibung entscheidend verändern muss, eröffnet nicht zuletzt auch in Hinblick auf eine sowohl ‚Neue Musik‘ als auch ‚Popmusik‘ gleichermaßen einbegreifende ‚Musikalische Zeitgeschichte‘ zahlreiche Möglichkeiten des Erzählens. Bevor eine solche Geschichte erzählt werden kann, ist freilich noch einiges an Theoriearbeit zu leisten. Im Sinne von tastenden Vorüberlegungen skizziert der Vortrag einige Grundlagen, Herausforderungen und Perspektiven dessen, was man vielleicht als ‚musikalische Historik‘ bezeichnen könnte. Momentan finde ich in diesem Zusammenhang die Idee reizvoll, eine musikalische Historik auf einem differenzierten Begriff der ästhetischen Erfahrung aufzubauen. Ob sich auf diesem Wege die prekäre theoretische Leerstelle füllen ließe, die das Obsolet-Werden des ehemals so zentralen Begriffs des absoluten musikalischen Kunstwerks hinterlassen hat, würde ich sehr gerne diskutieren.
Nikolaus Urbanek: Universitätsassistent am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien (seit 2010). Studium der Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien, 2008 Promotion mit einer Arbeit über Adornos Beethoven-Fragmente. 2005–2010 Lehrbeauftragter an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 2003–2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kritischen Gesamtausgabe der Schriften Arnold Schönbergs, 2009–2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Anton Webern-Gesamtausgabe. Derzeitige Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Musikästhetik und Musikphilosophie; Musikgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts; Grundlagen der Musikgeschichtsschreibung. Buchpublikationen in Auswahl: Spiegel des Neuen. Musikästhetische Untersuchungen zum Werk Friedrich Cerhas, Bern 2005; webern_21, Wien 2009 (hg. gem. mit Dominik Schweiger); Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos „Philosophie der Musik“ und die Beethoven-Fragmente, Bielefeld 2010; Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart 2013 (hg. gem. mit Michele Calella).