Orgelsammlung
Das Chamäleon
Die Früchte ihrer jahrelangen Arbeit an der Vervollkommnung ihres Orgelspiels dürfen – oder müssen - die Studenten auf der Konzertsaalorgel unter Beweis stellen. Hier finden nahezu alle Abschlussprüfungen im Orgelliteraturspiel statt, und deshalb muss diese Orgel wie eine gute Schauspielerin in viele verschiedene Rollen schlüpfen können. Das Problem einer solchen „Universalorgel“ ist, daß sie zwar theoretisch das gesamte Orgelrepertoire bedienen soll, dies aber dann im Einzelfall niemals mit der gleichen Qualität wie stilspezifische Instrumente leisten kann. Allein eine Zusammenstellung aller denkbar notwendigen Register würde ein Instrument ergeben, welches in seiner technischen Anlage unübersichtlich, ja nach den Maßstäben guter orgelbaulicher Ästhetik gar nicht realisierbar, und dazu klanglich völlig diffus wäre. Auch bei einer Eingrenzung auf einige ausgewählte stilistische Bereiche sind besonders in der Intonation Kompromisse nötig, da Register gleichen Namens und prinzipiell gleicher Bauart in verschiedenen Zeit- und Nationalstilen große klangliche Unterschiede aufweisen können. Zur Minimierung dieser Problematik bedarf es vor allem eines erfahrenen und sensiblen Intonateurs, der die Klanggestalt jeder einzelnen Pfeife im Detail plant und ausfeilt, dazu aber auch gründlicher konzeptioneller Überlegungen bei der Disposition.
Bei letzterer haben wir zwar nicht „das Rad neu erfunden“, doch wohl in Bezug auf die Grundanlage der Orgel einen in seiner Radikalität neuartigen Weg beschritten, der seither auch bei anderen Orgelneubauten in Konzertsälen der ganzen Welt aufgegriffen worden ist. Ausgangspunkt war die Festlegung auf diejenigen Repertoirebereiche der Orgelmusik, welche von dieser Orgel vorrangig bedient werden müssen. Dies sind neben der Musik Bachs in erster Linie deutsche und französische Kompositionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie zeitgenössische Musik, wobei letztere aus historischen Gründen kaum Rücksichtnahme bei der Disposition erfordert.
Im Schnittpunkt der drei genannten Stilbereiche kann der Orgelbauer Gottfried Silbermann gesehen werden. Er brachte einerseits eine starke klassisch-französische Komponente in den mitteldeutschen Orgelbau ein, andererseits wirkte sein überaus erfolgreiches Schaffen bis weit ins 19. Jahrhundert fort: vor allem bei mitteldeutschen Orgelbauern ist noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein an Silbermann angelehnter klanglicher Kern zu beobachten, um den herum moderne, romantische Elemente gruppiert sind. Auf eine Silbermannsche Klanggrundlage läßt sich aber nicht nur ein deutsch-romantischer Klang aufsetzen, sondern auch ein französisch-symphonischer, hat doch Aristide Cavaillé-Coll in einigen seiner großen Orgeln größere Instrumente des 18. Jahrhunderts weiterverwendet.
Diese drei stilistischen Sphären wurden nun folgendermaßen auf die vier Manualwerke verteilt: Die ersten beiden Manuale, als Haupt- und Oberwerk in der Mitte des Prospektes übereinander angeordnet, folgen in der Disposition den Gepflogenheiten Silbermanns und entsprechen mit geringfügigen Abweichungen der Disposition der letzten und größten Orgel Silbermanns in der Dresdner Hofkirche; hätte Silbermann eine noch größere Orgel gebaut, hätte er vielleicht die gleichen zusätzlichen Register disponiert. Das dritte Manual ist ein Schwellwerk im französisch-symphonischen Stil, das vierte ein deutsch-romantisches Schwellwerk, dynamisch bewußt gegen die anderen Werke zurückgenommen. Beide Schwellwerke stehen auf dem Boden, unmittelbar neben dem Spieltisch, entgegen der historischen Praxis einer eher hohen Plazierung in der Orgel, aber mit einem vergleichbaren akustischen Effekt: Durch die horizontalen Schwelljalousien kann der Klang indirekt durch Reflexion am Bühnenboden ins Publikum abgestrahlt werden, während der Großteil der Zuhörer, in den ansteigenden Sitzreihen etwa auf der Höhe des Hauptwerkes plaziert, vor allem das Oberwerk sehr direkt wahrnimmt.
Die technische Realisation einer viermanualigen Orgel mit 80 Registern und mechanischer Traktur mit ebenfalls mechanischen Koppeln stellt bezüglich Technologie und handwerklicher Präzision allerhöchste Anforderungen an den Orgelbauer. Die Firma Rieger (Schwarzach/Vorarlberg) hatte uns in dieser Beziehung mit einigen Instrumenten dieser Größenordnung am meisten überzeugt. Durch den Einsatz verschiedener technischer Kunstgriffe ist es ihr gelungen, eine angenehme Spielart zu erzielen, die auch bei vier mechanisch gekoppelten Manualen noch beherrschbar ist.
Die schwierige Aufgabe für den Intonateur Klaus Knoth bestand darin, einerseits die verschiedenen klangstilistischen Sphären deutlich auszuprägen, sie aber andererseits auch zur Synthese zu bringen und so den Gesamtklang der Orgel homogen zu gestalten. Diese Quadratur des Kreises wurde unter Berücksichtigung der notwendigen intonatorischen Kompromisse in höchst überzeugender Weise gelöst: bei sachgemäßer Registrierung kann die Orgel tatsächlich in verschiedene Klanggewänder schlüpfen und die Klangbilder stilspezifischer Originalinstrumente klar erkennbar nachahmen. Sie ist ein musikalisches Chamäleon.