zurück

 

FORSCHUNGSPROJEKTE

Quellen, Repertoire und Überlieferung der Kantate im deutschen Südwesten 1700-1770

I. Die Kantate als zentrale Gattung lutherischer Kirchenmusik

Die Geschichte der lutherischen Kirchenmusik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist maßgeblich mit der Gattung ‚Kantate’ verbunden. Neben den Innovationen des Oratoriums bot sie eine in viele Kirchen, Gemeinden, Orten und Regionen realisierbare Möglichkeit zur Modernisierung und Aktualisierung der Kirchenmusik. Der wissenschaftliche Blick auf diese Gattung ist bis heute stark von den norddeutschen und besonders von den mitteldeutschen Traditionen und von dem dort entstandenen bzw. überlieferten Repertoire bestimmt (vgl. Mauser 2010). Indes wäre kritisch zu hinterfragen, inwieweit z.B. der Kantatenbestand Johann Sebastian Bachs die Gattungsentwicklung vorangetrieben und in neue Bahnen gelenkt hat, oder ob nicht eher die auf überregionale Verbreitung und Transfer angelegten Repertoires (etwa von Telemann) gattungsprägende Relevanz beanspruchen können. Hinter dieser Skepsis steht die Frage nach der Eigenständigkeit, nach der Spezifik und nach der gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener regionaler Repertoires.

II. Regionale Vernetzung und Repertoiregeschichte

Zu einer auf Vernetzung angelegten Gattungsperspektive, die immer über Einzelbeobachtungen hinausgehen muss, bieten sich um so eher südwestdeutsche Quellen an, als am Beginn der südwestdeutschen Kantatenproduktion im frühen 18. Jahrhundert biographisch und mobilitätsgeschichtlich bedingte Beziehungen zum mitteldeutschen Raum nachweisbar sind, etwa mit der Übersiedelung Johann Philipp Käfers aus Hildburghausen nach Baden-Durlach oder Conrad Michael Schneiders aus Leipzig nach Ulm.

Insgesamt sind in dem Raum zwischen Basel-Strasbourg-Frankfurt-Wertheim-Nördlingen-Ulm und dem Bodensee mindestens 1500 Kantatentexte und 500 heute erhaltene Kompositionen erhalten, die Frankfurter (Telemann) und Darmstädter (Graupner) Bestände ebensowenig eingerechnet wie die umfangreicheren Werkbestände Werke Johann Samuel Welters (Schwäbisch Hall), Johann Wendelin Glasers (Wertheim) und Johann Melchior Molters (Karlsruhe). Allerdings sind nach dem bisherigen (und vorläufigen) Blick kaum geschlossene Bestände oder eine kontinuierliche Produktion von Kantaten erkennbar. Der Schorndorfer Bestand dokumentiert nicht vorrangig die Kantate im Zeitraum 1700-1760 (Lautewasser 2012), sondern deutet auf den Austausch und Transfer von Musikalien hin (so von Jommelli oder Dunz). Nachweise über die Produktion, den Erwerb oder die Aufführung von Kantaten in Ulm, Herrenberg und selbst im Umfeld des Stuttgarter Hofes wirken vereinzelt (das gilt auch für die Nördlingen und Wertheim). Im Vergleich zu Repertoires in Mitteldeutschland wirkt diese Überlieferung eher randständig (Krummacher 1996). Gerade weil ein geschlossenes Bild wohl kaum zu erreichen ist, werfen diese Quellen in besonderer Weise die Frage nach der Eigenständigkeit, nach Transfer und Übernahmen und somit auch der Transformation von Modellen auf.

III. Frageperspektiven und Leitfragen

Der heranzuziehende Quellenbestand ist teils geschlossen überliefert (Schorndorf); teils findet sich eine punktuelle Konzentration (Stuttgart, Wertheim), mitunter sind die Belege zerstreut (Urach, Ulm). Bereits diese Überlieferung wirft Fragen auf. Oft sind nämlich Entstehung und Überlieferung der Quellen an bestimmte Personen gebunden (Simon, Glaser), was die Frage nach biographischen Vernetzungen und damit zusammenhängend Fragen des Gattungstransfers aufwirft (Liebhold-Kantaten in Tübingen, Schotten und Weimar; Telemann in Tübingen). Im Falle des baden-durlachischen Kapellmeisters Johann Philipp Käfers liegt ein Transfer von Mitteldeutschland nach Baden nahe, im Falle des Stuttgarter Kapellmeisters Johann Georg Christian Störls ist die Beziehung nach Rudolstadt über Kapellinventare nachweisbar, eine direkte kompositionsbezogene Fokussierung auf eine Beziehung Störl-Erlebach wäre denkbar, in diesem Falle auch Fragen nach dem frömmigkeitsgeschichtlichen Standpunkt der Werke Störls im Umfeld des frühen Pietismus. Intensiv belegt ist ein überregionaler Kontakt nach Leipzig und speziell zu Kuhnau über die Autobiographie des Ulmer Münsterorganisten Conrad Michael Schneider, doch ist die Zahl der musikalischen Quellen aus der Feder Schneiders recht schmal. Dies zeigt, dass auch Kantatentextsammlungen, die z.B. nahezu zeitgleich im Umfeld von Käfer und Hiller entstanden, unter literaturhistorischer Perspektive einzubeziehen sind. Besonders für die Frühzeit der Kantate, also 1700-1720 stellt sich deshalb die Frage nach Abhängigkeit, Eigenständigkeit oder Parallelität der Entwicklungen, für die Zeit nach 1730 die der lokalen Bedingungen zur Ausbildung eines Repertoires (Dunz, Stuttgarter Hofmusik, Käfer-Kantaten in Pforzheim 1726) nach den damals vorliegenden Modellen und Vorbildern.

Neben der Erfassung des textlichen und musikalischen Repertoires sind vor allem mit dem Ziel einer gattungsgeschichtlichen Einordnung folgende Leitfragen von Bedeutung:

  • Zeitliche und räumliche Verteilung des Repertoires vor dem Hintergrund biographisch und institutioneller Gegebenheiten
  • Spuren regionaler und überregionaler Vernetzungen und von Transferprozessen
  • Modi der Repertoireverbreitung, des Vertriebs und des Ankaufs
  • gezielt vergleichende musik- und textbezogene Werkbetrachtungen, auch bezogen auf Jahrgänge, um Kantaten des Südwesten auf ihre Eigenständigkeit zu untersuchen
  • theologische, frömmigkeits- und kirchengeschichtliche Bedingungen zur Ausbildung des Repertoires.

IV. Erwartungshorizont

Oft werden Fragestellungen auf Desiderate und Überlieferungslücken stoßen, ersichtlich aus der Tatsache, dass viele biographische Artikel der neuen Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ nicht auf grundlegend neue Forschungen basieren und deshalb durch die Schriftleitung nur aktualisiert werden konnten (z.B. Stolzenberg). Die wünschenswerte Rückbindung der Gattungsgeschichte an institutionelle und für die Aufführungsgeschichte relevante Bedingungen wird vermutlich ebenfalls zuweilen an Grenzen stoßen und kann nicht en passant erschöpfend geleistet werden. Dennoch wird die auf Kontext und Vernetzung angelegte Herangehensweise zeigen, wo zukünftig ‚Tiefenbohrungen’ im Sinne einer Intensivauswertung angebracht sind. Vor dem Hintergrund der seit Krummacher immer noch tradierten regionalen Typologie des (Choral-)Kantatenrepertoires (Krummacher 1965 und 1978) ist eine Differenzierung für den Bestand der Kantaten zu erwarten, darauf deuten auch die zeitweiligen Überlegungen zur Integration von Chorälen in Stuttgarter Kantaten hin.

V. Quellen und Literatur (chronologisch)

  • Krummacher, Friedhelm: Die Überlieferung der Choralbearbeitungen in der frühen evangelischen Kantate. Untersuchungen zum Handschriftenrepertoire evangelischer Figuralmusik im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert (Berliner Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 10), Berlin 1965.
  • Krummacher, Friedhelm: Die Choralbearbeitung in der protestantischen Figuralmusik zwischen Praetorius und Bach (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. XXII), Kassel 1978.
  • Böning, Winfried: Die Kantaten von Johann Caspar Simon: ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Kirchenmusik um 1740, Augsburg 1993.
  • Krummacher, Friedhelm: Kantate, in: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 4, Kassel [u.a.] 1996, Sp. 1731-1755.
  • Pfau, Marc-Roderich: Erdmann Neumeister als Kantatendichter Graupners. Elf Texte in den frühen Kantaten entdeckt, in: Mitteilungen der Christoph-Graupner-Gesellschaft 4 (2008), S. 20-35.
  • Mauser, Siegfried (Hrsg.): Kantate, Ältere geistliche Musik, Schauspielmusik (Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 17,2), Laaber 2010, S. 43ff.
  • Kremer, Joachim: Neue Quellen zur Geschichte der Kantate in Südwestdeutschland im frühen 18. Jahrhundert. Johann Georg Christian Störls verschollener Kantatenjahrgang im gattungsgeschichtlichen Kontext, in: Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 2012, Bd. 19, S. 151-178.
  • Lauterwasser, Helmut: Katalog der Musikhandschriften der Kirchengemeinde Schorndorf im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart, München 2012.
  • ders.: Telemann-Rezeption in Nördlingen anno 1750. Eine Spurensuche, in: Die Musikforschung 66 (2013), S. 362-390.
  • Pfau, Marc-Roderich: „Und darinnen ist ein Gousto, welchem wenig Kirchen-Jahrgänge beykommen werden“ – Die Kirchenmusik-Jahrgänge Johann Wendelin Glasers, in: Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 2015, Bd. 22, S. 53-91.

Kontakt: Prof. Dr. Joachim Kremer

Echoraum 1913. Ein Jahr in der Musikgeschichte

Der Fokus auf ein einzelnes Jahr erlaubt eine ungewöhnliche Intensität der Recherche und der Genauigkeit im Umgang mit zeitgeschichtlichen Kontexten. Zugleich ist er sozusagen ein historiographisches Experiment: Während Musikgeschichtsschreibung sonst relativ großzügig über ganze Epochen, Gattungen oder Stile hinweggeht, nähern wir uns hier einer Perspektive, die dem „Nacherleben“ vergangener Welten relativ nahe kommt. Zum Beispiel ließe sich rekonstruieren, was man an einem beliebigen Tag in einer Stadt wie Berlin, Paris oder St. Petersburg im Konzert hören konnte – oder in der Oper, im Variété-Theater und im Ballhaus. Ein bestimmter historischer Moment verdichtet sich gleichsam zum „Hörbild“.

Damit sind eine Reihe interessanter methodischer Konsequenzen verbunden: Zum Beispiel ist klar, dass ein „Hörbild“ nicht Kompositionsgeschichte alleine umfasst, sondern ebenso Stationen der Geschichte musikalischer Interpretation. Auch gehören zum „synchronen Schnitt“  gleichermaßen „High“ und „Low“, ernste und unterhaltende Musik – unerwartete Allianzen und Übergänge zwischen den Sparten inbegriffen. Die Perspektive der Gleichzeitigkeit zwingt den Historiker, Musik mit politischen und kulturgeschichtlichen Situationen, auch mit Entwicklungen in den anderen Künsten zusammenzudenken. Und die radikale zeitliche Beschränkung erlaubt es andererseits, räumlich möglicherweise weit entfernte Schauplätze und Ereignisse in Beziehung zu setzen.

1913 war ein besonderes Jahr, wenn man so will: eine „Sternstunde“ der musikalischen Avantgarde. Dafür stehen Namen wie Claude Debussy, Alexander Skrjabin, Arnold Schönberg, Charles Ives, Igor Strawinsky, Alban Berg, Lili Boulanger und viele andere, die in diesem Jahr Schlüsselwerke schrieben bzw. zur Aufführung brachten. Aber wie kam eine solche Verdichtung zustande? Oder handelt es sich um einen rein illusionären Effekt, geschuldet der „selektiven Wahrnehmung“ bisheriger Musikgeschichten? Und wie haben andere Beteiligte das Jahr 1913 erlebt?

„Echoraum 1913“ behandelt Phänomene der Avantgarde, der musikalischen Alltagsgeschichte und (in Ausschnitten) der außereuropäischen Musik: Komposition und Interpretation, spektakuläre Highlights und etabliertes Repertoire, internationale Stars, Außenseiter und Entwicklungen im Verborgenen. Bekanntermaßen sind aus dem untersuchten Zeitraum nicht nur schriftliche Quellen, sondern auch Tondokumente, Fotografien, ja sogar Filme erhalten. Damit sind auch besondere Chancen – und Herausforderungen – an die Darstellung verbunden. Zu fragen ist auch, wie der Chronist von 1913 mit dem Wissen um 1914 umgeht, d.h. dem Bewusstsein, kulturelle Welten zu beschreiben, die dem Untergang geweiht sind.

Geplant ist eine größere monographische Veröffentlichung und eine Reihe von kleineren „Satellitenprojekten“ im näheren thematischen Umkreis.

Kontakt: Prof. Dr. Andreas Meyer

Bisherige Veröffentlichung zum Thema:

  • Andreas Meyer, „Im Echoraum. Europäische Musikgeschichte 1913“, in: Die Tonkunst 7 (2013), S. 162–169.
  • „Der Komponist Herwarth Walden. Eine musikalische Spurensuche im ,Sturm‘“, in: Irene Chrytaeus-Auerbach/Elke Uhl (Hrsg.), Der Aufbruch in die Moderne: Herwarth Walden und die europäische Avantgarde (Kultur und Technik 24), Berlin 2013, S. 137–155.
  • „Disrupted Structures: Rhythm, Melody, Harmony”, in: Hermann Danuser/Heidy Zimmermann (Hrsg.), Avatar of Modernity. The Rite of Spring Reconsidered, London 2013, S. 102–129.
  • „Bartók in Biskra/Algerien“, in: Béla Bartók. Themenheft Musiktheorie 30 (2016), Nr. 4, S. 323–344.
  • „Schöne Barbarei? Europas musikalische Avantgarde im Ersten Weltkrieg“, in: Jahrbuch des Staatlichen Institus für Musikforschung 2017, hrsg. von Simone Hohmaier, Druck i.Vorb. (erscheint vorauss. 2018).
  •  „Was heißt: soziale Dechiffrierung der Musik? Weberns Orchesterstücke und der Kanonendonner von Verdun“, in: Wolfgang Fuhrmann (Hrsg.), Zuständigkeiten der Musik-soziologie? Bericht vom Symposium der Fachgruppe Soziologie und Sozialgeschichte der Musik im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung, Mainz 2016, Druck i.Vorb. (erscheint vorauss. 2018).

Übergänge. Neue Wege zur inszenierten Musik

Wissenschaftliches Symposium im Rahmen des Kongresses  „Lost & Found. Stimme – Musik – Szene“ (Juni 2014)

Das Symposium „Übergänge. Neue Wege zur inszenierten Musik“ fragt, wie Musik und Szene sich zusammenfügen, wenn nicht von vornherein in Dimensionen der Oper gedacht wird. „Inszenierte Musik“ ist jedwede Musik, die Szenisches impliziert oder durch die szenische Realisation wesentlich gewinnt (zur Szene hin „tendiert“, wie man in Zeiten der Materialästhetik gesagt hätte). Dazu gehören die experimentellen Formen des neuen Musiktheaters, aber auch Phänomene im weiteren Bereich der Performance, der Improvisation, des „instrumentalen Theaters“, Musik im Videoclip (also auf einer „virtuellen Szene“), im Tanztheater und im Popkonzert. Geht man noch einen Schritt weiter, ist – wie schon Mauricio Kagel erkannt hat – schlechthin jedes Konzert eine mehr oder minder gelungene Inszenierung auch in visueller Hinsicht.

Genug Material für mindestens vier Symposien, sollte man meinen – und tatsächlich hat es vergleichbare Veranstaltungen über „Neue Musik und Szene“, über Hörbarkeit und Sichtbarkeit usw. ja in jüngster Zeit bereits mehrfach gegeben. Umso wichtiger erscheint ein prägnanter theoretischer Fokus, den wir uns vom Begriff der „inszenierten Musik“ und der Figur des „Übergangs“ erwarten. Damit wird die Verschiedenartigkeit der Künste und Medien akzentuiert: die nicht selbstverständliche Bewegung zwischen ihnen – im Unterschied zur Idee des Gesamtkunstwerks oder anderweitiger Konzepte, die auf eine „Verschmelzung“ der Künste setzen. Thematisiert werden sowohl Formen, die aus Musik geboren sind und zu Theater (oder zu Tanz, Performance, Video …) werden, als auch Musik, die aus einem theatralischen Konzept heraus motiviert erscheint. Ein Schlüsselphänomen ist in vielen besonders interessanten Fällen die menschliche Stimme. Sie vermittelt gleichsam zwischen „Text“ und „Körper“ als den zwei gegensätzlichen Paradigmen der neueren Forschung: zwischen dem vermeintlich körperlosen Text (einem literarischen Text in der wie auch immer verfremdeten Rezitation bzw. „Vertonung“, aber auch Notentext, Regieanweisung usw.) und der körperlichen Präsenz von Akteuren auf der Bühne.

Auf dem Symposium sollen exemplarische Phänomene vorgestellt und in ihrer ästhetischen Logik verstanden und weitergedacht werden. Dabei geht es weniger darum, verschiedene Bereiche „abzudecken“, als darum, die Folgerichtigkeit der jeweiligen Übergänge zu diskutieren. Die Beispiele – von Marthaler-Inszenierungen bis zum Björk-Video, von der Kammeroper bis zur Stimmperformance – können und sollen „bunt“ und disparat erscheinen, aber sie werden in einen gemeinsamen ästhetischen Rahmen gestellt. Das Symposium fragt auch nach historischen Referenzen und Verbindungslinien; z. B. gibt es von Schönbergs Pierrot lunaire bis hin zu György Kurtág und darüber hinaus eine Tradition der „impliziten Theatralität“. Nicht zuletzt sollen praktische Herausforderungen an Akteure und Rezipienten zur Sprache kommen. Auf der Grenze zwischen Stimme, Text und Körper, zwischen musikalischer Lyrik und Drama, zwischen Avantgarde und Pop werden auch die Möglichkeiten und Grenzen heutiger Komposition und Musikpraxis überhaupt deutlich.

Eingeladen sind Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaftler aus dem In- und Ausland, die aus ihrer aktuellen Arbeit berichten. Die Einbindung in den Kongress „Lost & Found – Stimme. Musik. Szene“ lässt einen spannenden Dialog von Theorie und Praxis erwarten.

Kontakt: Prof. Dr. Andreas Meyer / Dr. Christina Richter-Ibáñez

Erinnerung und Vergessen in der Musik

Dass Musik von namentlich bekannten Autoren verfasst, schriftlich fixiert und womöglich jahrhundertelang tradiert wird, war bis in die Frühe Neuzeit hinein alles andere als selbstverständlich. „Kulturelles Gedächtnis“ in der Musik ist ein Ausnahmefall, weit mehr noch als in der Dichtung oder der Bildenden Kunst. Das gilt schon für die Idee der Musikgeschichte selbst, die im Zuge des europäischen Humanismus erst allmählich aus den „Erfinderkatalogen“ herauswuchs. Heute dagegen wird zumindest die Kultur „klassischer“ Musik wesentlich historisch aufgefasst (und nicht zuletzt um Komponistenjubiläen herum organisiert).

Der Forschungsschwerpunkt schließt an die Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“ an, die in Deutschland vor allem von Jan und Aleida Assmann entwickelt wurde. Gerade am Beispiel der Musikgeschichte lässt sich der extrem selektive Charakter kultureller Erinnerung zeigen. Dem schmalen Ausschnitt dessen, was im „Funktionsgedächtnis“ der Gesellschaft heute präsent ist (und zum Beispiel an einer Musikhochschule unterrichtet wird), steht ein unüberschaubares Sediment versunkener musikalischer Vergangenheit gegenüber – teils noch im „Speichergedächtnis“ z.B. einer Bibliothek oder eines Archivs enthalten, teils aber von jeglicher Rekonstruktion mangels Überlieferung ausgeschlossen.

Die Selektivität von Erinnerung wird heute in der Debatte um musikalische Kanonbildung oder um ideologische Motive in der Musikgeschichtsschreibung kritisch thematisiert. Ein besseres Verständnis der Mechanismen von Erinnerung und Vergessen ist auch als ein Beitrag zu dieser Diskussion zu verstehen. An wechselnden Beispielen aus der Musikgeschichte sollen die Schwierigkeiten historischer Überlieferung an sich, mögliche Umstände der Etablierung und Revision „kanonischer“ Inhalte und die wechselnden medialen Anforderungen dabei reflektiert werden.

Nicht zuletzt ist auch das musikalische Hören ein Paradigma von Erinnerung und Vergessen. Schon die Aufgabe, sich eine nicht ganz simple Melodie zu merken, stellt viele Menschen vor kaum lösbare Probleme. Aber gerade die Flüchtigkeit der Musik und die „Präsenzerfahrung“ im Umgang mit ihr lässt sich auch als spezifische Qualität verstehen – sehr im Gegensatz zu früheren Modellen z.B. des „Experten-“ oder „Fernhörens“, die im Umgang mit Musik besondere Gedächtnisleistungen einfordern.

Kontakt: Prof. Dr. Hendrikje Mautner-Obst / Prof. Dr. Andreas Meyer

Bisherige Veröffentlichungen zum Thema:

  • Hendrikje Mautner-Obst, Audiovisuelle Mozart-Bilder. Studien zur Musikvermittlung (in Vorbereitung).
  • Hendrikje Mautner-Obst, „Franz Werfel und Giuseppe Verdi: Umdeutungen und Neudeutungen in erinnerungskulturellem Kontext“, in: Österreichische Musikzeitschrift 68 (2013),H. 1, S. 14–22.
  • Hendrikje Mautner-Obst, „Verdi-Wissen. Wissensfelder in Franz Werfels Roman Verdi und ihre Bedeutung für die deutsche Verdi-Renaissance der 1920er Jahre“, in: Verdi-Reception, hrsg. von Lorenzo Frassà und Michela Niccolai, Turnhout 2013, S. 119–136.
  • Hendrikje Mautner-Obst, „‚Musik der Erinnerung‘. Nigel Osbornes I am Goya als Medium des kulturellen Gedächtnisses“, in: Diskussion Musikpädagogik (2010), H. 45, S. 7–11.
  • Andreas Meyer, „Bleibende Werke? Aspekte der Herausbildung eines Kanons neuer Musik in Darmstadt“, in: Wolfgang Birtel/Christoph-Hellmut Mahling (Hrsg.), „Dauerkrise in Darmstadt“? Neue Musik in Darmstadt und ihre Rezeption am Ende des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur mittelrheinischen Musikgeschichte 43), Mainz u. a. 2012, S. 164–178.
  • Andreas Meyer (Hrsg.), Was bleibt? 100 Jahre Neue Musik (Stuttgarter Musikwissenschaftliche Schriften 1), Mainz 2011.
  • Andreas Meyer, „Komponisten-Motette als historischer Raum. Zu Nicolas Gomberts Musae Iovis“, in: Die Kunst des Übergangs. Musik aus Musik in der Renaissance, hrsg. von Nicole Schwindt (Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik 7), Kassel u. a. 2008, S. 133–154.
  • Andreas Meyer, „Von Erfindern, Jahreszahlen und letzten Dingen. Calvisius als Historiker der Musik“, in: Gesine Schröder (Hrsg.), Tempus musicae – tempus mundi. Untersuchungen zu Seth Calvisius (Studien zur Geschichte der Musiktheorie 4), Hildesheim u. a. 2008, S. 153–171.
  • Andreas Meyer, „Fixierung des Flüchtigen? Zum Musikbegriff bei Marcel Proust“, in: Reiner Speck/ Michael Maar (Hrsg.), Marcel Proust. Zwischen Belle Époque und Moderne. Die Bibliotheca Proustiana Reiner Speck (Katalog zur Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, 9. Juli–29. August 1999), Frankfurt a. M. 1999, S. 126–141.

Musikpädagogik-Forschungsprojekte

 

Der Forschungsstandort Stuttgart befindet sich im Bereich der Musikpädagogik noch im Aufbau. Dennoch weisen die aktuellen Projekte sowohl inhaltlich als auch methodologisch bereits ein breites Spektrum auf und stoßen schon heute über Baden-Württemberg hinaus auf Interesse.

Drittmittelforschung

  • Phasendurchlässige Module – das „Stuttgarter Modell“: Projekt gefördert vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft •• Leitung: StD’ Andrea Amann, Regierungspräsidium Stuttgart, Dr. Bert, Gerhardt, Staatl. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Stuttgart, Prof. Dr. Sointu Scharenberg, HMDK Stuttgart •• Laufzeit 2010–2013http://www.lehrer-bilden.schulmusiker.info/