Der Saal ist niemals leer

Der Saal ist niemals leer

  1. Für mich als Zuhörerin war es toll, Einzelne des Ensembles im close up-Format ganz nahe zu sehen und beim Spielen beobachten zu können. Wie war es für dich, umzingelt zu sein von neun Kameras und zu wissen, dass man in jedem Moment ganz groß im Bildschirm der anderen erscheinen könnte?
    Alex Waite: Eigentlich fühlte es sich mehr wie eine normale Konzertsituation an, als man denken würde. Da die Aufführungen auf einer Bühne (die ich kenne) in einem großen Saal mit Bühnenlichtern und Performance-Kleidung stattfanden, fühlte ich die „Vierte Wand“ zwischen der Bühne und dem Rest des Auditoriums so stark, als gäbe es ein Live-Publikum. Wenn man spielt, fühlt man den Aufführungsraum, der sowohl physisch als auch akustisch groß ist, und so war ich mir der Kameras nicht sehr bewusst. Dies war jedoch vor und nach den Stücken anders, weil es eine ungewöhnliche Situation war, sich nur vor Kameras und keinen Menschen zu verbeugen!

  2. Du warst ja in beiden Festivals als Komponistin involviert, was waren deine Erfahrungen mit den neuen Formaten und inwiefern hat es dein Komponieren beeinflusst? Musstest du umdenken, um für ein Konzert mit Live-Stream-Übertragung zu schreiben? Spielte das Visuelle eine andere Rolle, als du ein Stück, das nur über ein Video auf einer Website zu sehen ist, komponiert hast?
    Arezou Rezaei: Neue Formate sind natürlich für alle eine Herausforderung. Speziell im Kompositionsprozess hat das für mich keine Rolle gespielt, da die Komposition schon viel früher fertig war und wir damals nicht wussten, dass das Konzert online stattfinden wird. Und genau deshalb mussten wir die Einstellungen auf der Bühne nochmal überprüfen, dass die Musiker*innen mit genug Abstand zueinander sitzen können. Besonders für Blasinstrumente gab es Schwierigkeiten, deren notwendige Abstände zueinander auf der Bühne einzuhalten und trotzdem nahe zu den konzipierten Aufstellungen bleiben. Ich weiß allerdings nicht, ob die Zuhörer*innen, wenn sie das Stück live gehört hätten, dieselbe räumliche und akustische Wahrnehmung gehabt hätten oder nicht. Da die Positionen der Musiker*innen in direktem Zusammenhang damit standen, was sie spielen, hätte man das im live-Konzert sicher nochmal anders erfahren können.
    Es war aber auch trotz allem eine sehr schöne und besondere Erfahrung. Das professionelle Ton- und Video-Aufnahme-Team hat eine unglaublich große Rolle für das gute Ergebnis gespielt, da sie an so vieles gedacht haben. Das hat sich angefühlt, als ob ich etwas total Neues mache, und es war wie eine Art Experiment. Eins von den interessantesten Dingen neben der spannenden Arbeit mit den tollen Mitwirkenden, fand ich, war, dass die Zuschauer*innen unabhängig vom Wohnort das Konzert live anschauen und hören konnten und wir dadurch ein großes und internationales Publikum hatten und sogar Zuhörer*innen erreichen konnten, die vielleicht normalerweise nicht die Möglichkeit gehabt hätten, in unserem Konzertsaal vor Ort dabei zu sein, so wie meine Familie im Iran beispielsweise, ehemalige Kolleg*innen, Lehrer*innen oder Freund*innen.

  3. Du kennst das Werkstattfestival schon ziemlich lange und hast bereits als Komponist selbst oft mitgewirkt. Wie war es für dich diesmal, das Ganze per Livestream zu verfolgen? Wie war der Klang, der bei dir zu Hause ankam?
    Adrian Laugsch: Den Live-Stream habe ich mit gemischten Gefühlen verfolgt. Generell muss ich zugeben, dass ich kein besonders großer Freund von Live-Streaming bin, da (meiner Meinung nach) die besondere Spannung eines Präsenz-Events nur schwer eingefangen werden kann und im Gegensatz zu einem vorproduzierten Video einige Nachteile entstehen – besonders bei Dauern von über 2 Stunden. Nach der zweiten Umbaupause habe ich ausgeschaltet und mir einige Tage später die Stücke einzeln angehört. Eine Vorproduktion beziehungsweise ein Zusammenschnitt könnte zudem auch künstlerisch neue Optionen eröffnen. Positiv überrascht war ich allerdings über die gute Qualität des Videos (mehrere Kameras, HD, guter Sound). Die Mitschnitte der Werkstatt waren immer ein Krampf und eine derartig hochwertige Dokumentation sollte möglichst auch nach dem Lockdown beibehalten werden!

  4. Du konzipierst nun schon sehr lange Werkstattfestivals, was war dieses Jahr anders und inwiefern hat es deine Planung und Konzeption beeinflusst? Hast du neue Erfahrungen gemacht während des Dirigierens?
    Christof M Löser: Das web_statt_festival im Sommer- und das work_statt_festival im Wintersemester 2020 waren – seit dem ersten werk_statt_festival im Sommersemester 2012 – die einzigen, bei denen äußere Umstände das Format (und erstmals auch den Namen) so essentiell prägten. Während wir im Juni 2020 kurzfristig zwei Konzerttage in eine Aufnahmephase transformierten, aus der die Internetseite https://webstattfestival.net hervorging, entwickelte sich das work_statt_festival prozessual zum ersten Livestreaming-Ereignis des STUDIOs NEUE MUSIK.
    Das begann bei der Planung im Juli 2020 mit der Aufarbeitung des „Corona-Rückstaus” an Kompositionen, dem Gefühl, dass es nun darum ginge, sich im Rahmen des jeweils Möglichen ganz aufs Arbeiten selbst zu fokussieren, weniger aufs Präsentieren. Es setzte sich nach fruchtbaren Sommerkompositionsmonaten fort mit wachsender Sorge um das Projekt und um die Gesundheit aller Beteiligten sowie mit der ständigen Anpassung an immer engere Grenzen, was natürlich Reibungen, aber auch eine eigentümliche Intensität hervorrief und die involvierten Komponist*innen, Interpret*innen, Studierenden und Lehrenden aufs Äußerste forderte.
    Dass unter diesen Umständen permanenter angespannter Vorsicht, seltsamster distantieller ühnenanordnungen, erschwerten Einatmens unter Masken, (dadurch) erhöhter Angewiesenheit dirigentischer Kommunikation auf Blicke und „weitreichende” Gestik, publikums„losen" Auftretens etc. in den zwei Konzerten eine solche Zahl von Uraufführungen und „Repertoire”-Stücken in besonderer Qualität aufgeführt werden konnte, noch dazu mit Gästen, internationalem Publikum in munterem Live-Chat und mit inzwischen 3.165 youtube-Aufrufen (Stand 28.1.´21), ist ein kleines Wunder und im Rückblick einer der glücklichsten Momente des Jahres, sozusagen kurz vor Torschluss. ☞ https://www.youtube.com/watch?v=PiOMygQEGoI, https://www.youtube.com/watch?v=7VONdBy8Zd0
    Und dass sich das Ganze wie ein lebendiges Konzert anfühlte trotz mehrfacher Isolierung auf der Bühne (Masken, schwer überbrückbare Abstände, Kameras, quasi leerer Saal...), ist umso erstaunlicher.
    All dies ist Anlass zu zukünftig intensiverem, reflektierterem, kreativerem Umgang mit Digitalität einerseits und andererseits Grund für ein umso größeres Bedürfnis nach leibhaftigem und direktem Interagieren im realen Raum mit Ensemble, Klang und Publikum.

  5. War es für dich eine Herausforderung, ein Stück für ein web_statt_festival zu schreiben? Was sind für dich die Vor- und Nachteile eines solchen Formates? Würdest du rückblickend sagen, dass das Videoformat für dich und dein Stück funktioniert hat?
    Brandon Lincoln Snyder: Die geographische Entfernung war ein sehr großer Einfluss in der Erfahrung des web_statt_festivals. Die Nachteile des Formats sind klar, und deshalb versuchte ich nicht, das Originalkonzept als Video zu machen, sondern machte ein Videostück, aus dem Material meines Originalstückes, um die Vorteile eines digitalen Formates am stärksten nutzen zu können. Am Ende finde ich das Stück ehrlicher als meine typische Arbeit. Angesichts der Schwierigkeiten der Pandemie war ich gezwungen, Hemmungen und Vorsichtsmaßnahmen loszulassen, an denen ich mich normalerweise unter bequemeren Umständen festhalte.

  6. Eine gute Live Übertragung braucht immer auch ein starkes Team hinter den Kameras. Wie bist als Produktionsleiter vorgegangen die Aufnahmen für das herausfordernde Programm mit so vielen Uraufführungen zu planen?
    Arne Morgner: Ja das war in der Tat für die Livestream-Produktionsleitung eine Herausforderung, denn Uraufführungen sind ja Uraufführungen, weil man die Stücke vorher noch nicht kennt oder sehen kann, und so war eine Vorbereitung relativ schwierig, denn wir wussten nicht, was auf uns zukommt. Bei einer Beethoven-Symphonie zum Beispiel wäre eine Planung einfacher, denn wir könnten im Vorfeld Einstellungen planen und Perspektivschüsse überlegen, mit denen wir die Kameraeinstellungen für das Orchester und die Solist*innen vorbereiten. Bei den Uraufführungen mussten wir jedoch alles mit den Komponist*innen vorher zusammen überlegen, ohne das Werk vorher gehört oder gesehen zu haben. Die Schwierigkeit dabei liegt immer in der angemessenen Bildregie von Bild und Ton und deren Schnitt. Für diese live Komposition verwendeten wir für die meisten Stücke ein 360°-Aufnahmeverfahren mit dem Ziel: ein Stück für die Zuschauer*innen vorstellbar zu machen. Normalerweise sind wir eine 180 °-Perspektive gewohnt und die Zuschauer im Konzert wissen immer, wo sich die Musiker*innen auf der Bühne befinden und woher der Klang kommt. Diese Orientierung aus einer festen Perspektive war hier jedoch nicht möglich, da das Geschehen auf der Bühne zu vielschichtig war und wir nun versuchen mussten, trotzdem eine räumliche Orientierung zu ermöglichen. Das gleiche gilt auch für die Musik. Normalerweise hätten wir bei einer klassischen Konzertbeschallung einen Stereo Sound der aus zwei Richtungen kommt. Hier jedoch hatten wir einen 3D-Sound mit Musiker*innen auf verschiedenen Ebenen, mit verstärkten und unverstärkten Klängen, eingespielte Sounds und live Elektronik. Diese Audiosignale haben wir mit Mikrofonen wie in einem 3D-Raum angeordnet und dann mit einem Algorithmus binauralisiert. Das heißt, wir haben die 3D-Signale so runtergerechnet, dass eine Räumlichkeit und ein dreidimensionales Audiosignal auch mit einem „normalen“ Kopfhörer zu Hause als 3D-Klang wahrgenommen werden konnte. Ganz herzlichen Dank an dieser Stelle an mein fünfköpfiges Live-Aufnahmeteam!

  7. Da du maßgeblich an der Konzeptentwicklung für die neuen Formate als Kompositionslehrer beteiligt warst, würde mich interessieren worin du die Herausforderungen und auch Schwierigkeiten siehst, mit denen wir alle, aber vor allem auch die Studierenden umgehen mussten. Würdest du sagen, dass das Komponieren für ein Webformat ein verstärktes Reflektieren vor allem auch von visuellen Komponenten erfordert?
    Prof. Martin Schüttler: Das neue Webformat stellt die Studierenden schon vor die Frage, einer visuellen Präsentation. Aber es ist auch komplizierter. Denn die Online-Präsentation ist ja komplexer, es gibt keine eingeübten Automatismen, wie es sie im Konzertablauf und in den Ritualen des bürgerlichen Konzertes gibt. Gleichzeitig gehen alle auch immer mit den Mitteln des Internets um, sie sehen Videos auf YouTube, sie laden Stücke bei soundcloud hoch, sie bewegen sich permanent im Internet. Trotzdem ist es nicht unkompliziert, diese beiden Ebenen miteinander in Verbindung zu bringen – die Präsentation der eigenen Arbeiten und die spezifischen Chancen und Anforderungen im Internet.

  8. Da wir dieses Jahr zum ersten Mal unser Werkstattfestival mit Livestream übertragen konnten, hatten wir neben unserem immer gerne gesehenen Neue Musik Publikum aus Stuttgart, auch die Familie der Komponistin Bengisu Önder in der Türkei als Zuschauer*innen vor dem Bildschirm. Wie war es für Sie, das Stück Ihrer Tochter live hören zu können? War es für Sie eine neue Art und Weise ein Konzert zu hören? Wie hat es Ihnen gefallen?
    Burhan Önder: Ich gratuliere herzlich der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und allen, die zur Realisierung dieses Konzerts beigetragen haben. Darüber hinaus war dieses Konzert auch ein wichtiges Zeichen für die Türkei, ähnliche Aktivitäten durchzuführen. Es war sehr aufregend für mich, den neuen Werken junger Komponist*innen zuzuhören und ihre neuen Ansätze zu sehen. In diesen Tagen, in denen wir in der Pandemie leben, war es dank Ihnen möglich, die Arbeit meiner Tochter Bengisu Önder zu hören und die Aufregung der Uraufführung mit ihr zu erleben. Wir waren sehr glücklich und stolz auf ihren Erfolg. Ein großes Dankeschön, an alle die uns diese Gelegenheit ermöglicht haben.
    Öznur Fatma Uzuner: Ich war sehr enttäuscht, als ich aufgrund der Pandemie meine Chance verpasste, die Arbeit meiner Tochter live im Saal zu hören, obwohl ich mir ein Flugticket gekauft hatte. Dennoch war es mir eine große Freude, das live übertragene Konzert zusammen mit meinen Freund*innen auf YouTube anschauen zu können. Es war eine besondere Erfahrung für meine Freund*innen, die dank meiner Tochter neue Musik kennengelernt haben. Das Konzert hat ihnen sehr gut gefallen und mir war eine Freude, von ihnen gute Komplimente für die Arbeit meiner Tochter zu erhalten und ich war stolz auf sie. Vielen Dank an alle, die mitgeholfen haben, dieses Konzert zu realisieren. Ich applaudierte stehend den Künstler*innen auf der Bühne, schicke ihnen Liebe und Respekt und freue mich darauf, ihre neuen Werke zu hören.

  9. Als Kompositionslehrer warst du aktiv in die Situation involviert und hast deine Studierenden beraten, wie sie mit der Herausforderung ein Stück für eine Website zu schreiben sowie mit der Situation eines live übertragenen Konzertes bestmöglich umgehen zu können. Was waren deine Tipps oder wovor hast du sie auch gewarnt?
    Prof. Marco Stroppa: Zuerst habe ich meinen Studierenden direkt gesagt, dass mir Konzerte ohne Publikum und mit nur Live-Streaming gar nicht gefallen. Es soll eine Notlösung bleiben, die nur für diese außergewöhnlichen Zeiten gelten soll und kein Präzedenzfall für die Zukunft werden. Danach habe ich sie beraten, keine musikalische Kompromisse zu akzeptieren, und die Uraufführung zu planen, als ob es Publikum gäbe, z.B. mit mehrkanaliger Elektronik, wenn wie sie vom Anfang geplant wurde.
    Am Ende habe ich zusammen mit jedem*r Student*in die bestmögliche Strategie für die Aufnahme diskutiert, um einen guten Mitschnitt der Aufführung zu kriegen.
    In der Zukunft können wir sicher einen Live-Stream planen, der erlauben wird, nicht nur ein internationales Publikum zu erreichen, (im Durschnitt hatten wir 1700 Zuhörer*innen bei jedem Konzert in der letzten Werkstatt, was extrem gut ist), sondern auch die Qualität und Lebendigkeit unserer Konzerte auf dem Netz zu dokumentieren. Aber das Konzert soll die einmalige Erfahrung und das einzigartige Treffen zwischen den Komponist*innen, den Interpreter*innen und dem Publikum bleiben.

  10. Du warst in beiden Festivals als Komponistin vertreten. Was bedeutet es für dich ein Stück für eine Website zu schreiben? Inwiefern hat das dein Komponieren beeinflusst? Wie funktioniert das Format einer Website für dein Stück, gibt es Vor- oder Nachteile?
    Bengisu A. Önder: Mein Stück „In depth of a dream“ für Ensemble, 8-Kanal-Zuspiel und Raum, das am 14. November 2020 beim Werkstattkonzert uraufgeführt wurde, wurde ursprünglich mit dem Gedanken an eine klassische Konzertsituation komponiert. In meinem Stück geht es darum, mit der Interaktion zwischen acht Lautsprechern und der Tatsache, dass Musiker nicht nur auf der Bühne stehen, sondern sich zwischen verschiedenen Punkten in der Halle bewegen, um das Verhalten des Klangs im Raum zu variieren und die Klangwahrnehmung der Zuhörer zu formen. Obwohl versucht wurde, diese Dimension mit speziellen Techniken online zu simulieren, ist die Übertragung auf das Online-Format nur bis zu einem gewissen Grad möglich.
    Trotz vieler Kompromisse erinnere ich mich jedoch noch gut an den Konzertmoment. Es war sehr aufregend und gleichzeitig war die Leere während der Aufführung im Konzertsaal ein seltsames Gefühl. Desto schöner war es jedoch, meinen Konzertmoment mit meiner Familie und Freund*innen aus der Türkei und anderen Ländern zu teilen. Nach dem Konzert, als ich das Livestreams-Video auf YouTube sah, habe ich gesehen, dass der Saal überhaupt nicht leer war! Sie waren alle während des Konzerts bei mir, mit ihren herzlichen Wünschen und Kommentaren. Das zu sehen hat mich sehr glücklich gemacht.
    Die Technologie dieser Ära hat die Kraft, viele Dinge möglich zu machen. Für ein*e Künstler*in ist es eine einzigartige und wichtige Chance, ihre Kunst mit der ganzen Welt teilen zu können. Ich hoffe, dass nach diesen schwierigen Zeiten der Einschränkungen ein hybrides Konzertformat bestehend aus klassischen und Online-Formaten, immer häufiger wird. Auf diese Weise hätten wir die Möglichkeit, die mit jedem Format verbundenen Möglichkeiten und Vorteile zu kombinieren und davon zu profitieren.

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